Im Prater wurde geprasst und gestohlen und das Gestohlene verprasst, das lassen zumindest Zeitungsmeldungen aus der Zeit des Ersten Weltkriegs vermuten. Als Musterbeispiel wird ein zehnjähriger Meistertaschendieb angeführt, der in der Menge des Rummels das nötige Kleingeld erbeutete, um es mit seinen Freunden an den umliegenden Unterhaltungsorten auf den Kopf zu hauen. Einer seiner Kollegen nahm im Gedränge vor der Wigl-Wogl-Rutschbahn nicht nur die Börse eines Kinderfräuleins an sich, sondern auch gleich die Eintrittskarten für den Schützengraben der Kriegsausstellung. Noch durchtriebener stellte sich ein dreizehnjähriger Bürgerschüler an. Er erleichterte die Mutter seines Freundes um Ceresfett, Margarine und 60 Kronen sowie seine eigene Mutter und Großmutter um Kleider, Zwiebel und ein Flügelhorn, die er allesamt versetzte, um für Hippodrom, Kino, Ringelspiel und Schundromane im Prater zu bezahlen. Damit lag der minderjährige Straftäter voll im Trend der Zeit. Denn in den Jahren des Ersten Weltkriegs wurde kaum ein Diebstahl oder Raubüberfall gemeldet, bei dem nicht neben Geld, Schmuck und Silber auch Güter des täglichen Bedarfs und vor allem Wäsche entwendet wurden. Aus dem Lebensmittelmagazin der Schuckertwerke beispielsweise wurden 14 Kübel Gänseschmalz gestohlen, aus dem Magazin der Donaudampfschifffahrtsgesellschaft im Prater Damenkleider und Batiststoffe, aus der Kaiser-Wilhelms-Kaserne vier Pferde, zwei leichte Trainwagen, zwölf Pferdegeschirre sowie mehrere Decken. Eine zehnköpfige Diebesbande hatte sich überhaupt nur auf Lebensmittel spezialisiert und einer Haftentsprungenen wurde der Verkauf aller Möbel aus ihrem angemieteten Zimmer an einen Trödler zu Lasten gelegt.
Unter den gewöhnlichen Diebstählen stechen allerdings jene hervor, bei denen List und Täuschung eine nicht unwesentliche Rolle spielten. Falsche Patrouillen und Köpenickiaden waren keine Seltenheit. In einem Fall beschlagnahmten die vermeintlichen Amtspersonen neben Juwelen und Kleidern noch Tabak, Leder, Schuhe, Mehl und Seife. Doch nicht einmal auf die Opfer konnte sich die Polizei verlassen. So manche geknebelte Putzereiangestellte oder Verkäuferin entpuppte sich als die eigentliche Täterin.
Bisweilen entbehrte das falsche Spiel mit der Polizei allerdings einen kriminellen Hintergrund. Eine zwölfjährige Volksschülerin etwa, die – angeblich ihrer Kleider beraubt – im Wasser des Donaukanals stehend aufgefunden wurde, fürchtete lediglich die Strafe ihrer Eltern, da sie sich mit ihrem Holzbündel verspätet hatte. Völlig rätselhaft blieb die Tat eines achtzehnjährigen Anstreichergehilfen, der sich von einem fremden Jungen knebeln, den Mund mit einem Grasknäuel verstopfen und in ein Brennnesselfeld werfen ließ und diesen dafür auch noch mit 90 Hellern bezahlte. Eineinhalb Tage lag er dort, bis er bewusstlos aufgefunden wurde und die Ärzte Nervenkrämpfe und Schreckneurose diagnostizierten. Grund für sein Tun wollte ihm selbst keiner einfallen, außer dass er bei seinem Meister Hunger litt und keinen Lohn erhalten hatte. Eventuell hatte er sich inspirieren lassen von einem Fall, der sich ungefähr zwei Monate zuvor ereignet hatte. Ein galizischer Flüchtling bzw. Hilfsarbeiter wurde von zwei Fremden, die er nach einem Nachtquartier gefragt hatte, in eine entlegene Pratergegend gebracht, dort seiner Börse beraubt und an einen Gartenzaun gebunden, den Mund mit Leinenfetzen zugestopft.
Auffällig ist, dass gestohlenes Geld trotz der schweren Zeiten meist verprasst wurde. Der Hunger nach Vergnügen und Luxus schien oftmals die Überhand zu gewinnen, wofür die zeitgenössische Berichterstattung zwei Extrembeispiele liefert: „Eine tolle Nacht“ lautet der Titel eines Artikels im Fremden-Blatt über einen siebzehnjährigen Praktikanten, der aus der Wohnung seines Chefs eine hohe Summe entwendete, die er noch in der gleichen Nacht in Begleitung eines Oberkellners durchbrachte. Zuerst erwarb er vornehme Kleidung, mietete sich in einem Hotel ein und unternahm Spazierfahrten in einem geliehenen Automobil. Die Nacht verbrachte er mit besagtem Kompagnon im Restaurant Eisvogel, in vier weiteren Konzert- und Nachtkaffeehäusern und zwei Gasthäusern, in denen er vorzugsweise Champagner bestellte sowie großzügig die Zeche anderer Gäste, der Kellner und Zigeunermusiker übernahm. Seinem Freund kaufte er dann noch dessen goldene Uhr samt Kette ab, um sie seiner gerade entdeckten Liebe zu schenken. Ein Jahr Kerker lautete das Urteil des Richters und dem Oberkellner wurden die Gesamtkosten angehängt.
Aufsehen im Prater erregte darüber hinaus ein sehr bekannter, da zweimal vorbestrafter fünfundzwanzigjähriger Handlungsgehilfe, der in Gesellschaft leichtfertiger Mädchen größere Geldausgaben tätigte. Wie sich herausstellte, hatte seine ungarische Braut ihm eine stattliche Summe geschickt, um bereits vor der Hochzeit Möbel kaufen zu können. „Ein liebender Bräutigam“ titelte das Znaimer Wochenblatt.
Abschließend bleibt nur noch eine „(Warnung!) Im Zirkus-Busch-Variété, Busch-Gebäude im k. k. Prater, sind von der Kasse eine größere Anzahl Eintrittskarten gestohlen worden. Die Direktion warnt vor Ankauf dieser Karten, die nicht zum Eintritt berechtigen. Zweckdienliche Angaben erbeten an die Direktion.“ (Neues Wiener Journal, 03.07.1918)
Literaturverzeichnis
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NN: Einbruchsdiebstahl. – In: Wiener Zeitung v. 30.03.1916, S. 14 (http://anno.onb.ac.at/cgi-content/annoshow?call=wrz|19160330|14|100.0|0).
NN: Eine tolle Nacht. – In: Fremden-Blatt v. 07.04.1916, S. 12 (http://anno.onb.ac.at/cgi-content/annoshow?call=fdb|19160407|12|100.0|0).
NN: Das Wiedersehen beim „Stillen Zecher“. Kurze Freiheit einer entsprungenen Arrestantin. – In: Neues Wiener Journal v. 16.04.1916, S. 16 (http://anno.onb.ac.at/cgi-content/annoshow?call=nwj|19160416|16|100.0|0).
Hofrat Dr. Eduard Prinz von und zu Liechtenstein: Der Krieg und die Jugend. – In: Neue Freie Presse v. 30.04.1916, S. 8-9 (http://anno.onb.ac.at/cgi-content/annoshow?call=nfp|19160430|8|100.0|0).
NN: Ein jugendlicher Taugenichts. Wenn der Vater im Feld steht… – In: Neues Wiener Journal v. 17.05.1916, S. 13 (http://anno.onb.ac.at/cgi-content/annoshow?call=nwj|19160517|13|100.0|0).
NN: Das Erlebnis eines galizischen Flüchtlings. – In: Neue Freie Presse v. 22.05.1916, S. 8 (http://anno.onb.ac.at/cgi-content/annoshow?call=nfp|19160522|8|100.0|0).
NN: Angebunden und beraubt. – In: Grazer Mittags-Zeitung v. 23.05.1916, S. 3-4 (http://anno.onb.ac.at/cgi-content/annoshow?call=gmz|19160523|
3|100.0|0; http://anno.onb.ac.at/cgi-content/annoshow?call=gmz|19160523|4|100.0|0).
NN: Ein Zehnjähriger als Meistertaschendieb. – In: Österreichische Volks-Zeitung v. 08.08.1916, S. 8 (http://anno.onb.ac.at/cgi-content/annoshow?call=ovz|19160808|8|100.0|0).
NN: Ein gefesselter Knabe. – In: Wiener Zeitung v. 09.08.1916, S. 12 (http://anno.onb.ac.at/cgi-content/annoshow?call=wrz|19160809|12|100.0|0).
NN: Die hysterischen Phantasien eines Knaben. – In: Neue Freie Presse v. 15.08.1916, S. 14 (http://anno.onb.ac.at/cgi-content/annoshow?call=nfp|19160815|14|100.0|0).
NN: Ein Flüchtlingsjunge als Taschendieb. – In: Die Neue Zeitung v. 22.08.1916, S. 6-7 (http://anno.onb.ac.at/cgi-content/annoshow?call=nzg|
19160822|6|100.0|0; http://anno.onb.ac.at/cgi-content/annoshow?call=nzg|19160822|7|100.0|0).
NN: Schmalz um 5000 Kronen gestohlen. – In: Arbeiter-Zeitung v. 03.03.1917, S. 6 (http://anno.onb.ac.at/cgi-content/annoshow?call=aze|19170303|6|100.0|0).
NN: Einbruchsdiebstahl. – In: Wiener Zeitung v. 13.04.1917, S. 3 (http://anno.onb.ac.at/cgi-content/annoshow?call=wrz|19170413|21|100.0|0).
NN: Frachtwagendiebe. – In: Wiener Allgemeine Zeitung v. 19.04.1917, S. 3 (http://anno.onb.ac.at/cgi-content/annoshow?call=waz|19170419|3|100.0|0).
NN: Verhaftete Einbrecher. – In: Österreichische Volks-Zeitung v. 17.06.1917, S. 6 (http://anno.onb.ac.at/cgi-content/annoshow?call=ovz|19170617|6|100.0|0).
NN: Einbrecherjagd im Prater. – In: Die Neue Zeitung v. 09.08.1917, S. 6 (http://anno.onb.ac.at/cgi-content/annoshow?call=nzg|19170809|6|100.0|0).
NN: Um 20.000 Kronen Wäsche veruntreut. – In: Arbeiter-Zeitung v. 13.01.1918, S. 5 (http://anno.onb.ac.at/cgi-content/annoshow?call=aze|19180113|5|100.0|0).
NN: Große Seidendiebstähle auf einem Schlepper. Die Goldenberg, der Kohn und der gleichrassige „Unbekannte“. – In: Reichspost v. 25.02.1918, S. 5 (http://anno.onb.ac.at/cgi-content/annoshow?call=rpt|19180225|5|100.0|0).
NN: Eine fingierte Raubanzeige. – In: Deutsches Volksblatt v. 01.03.1918, S. 9 (http://anno.onb.ac.at/cgi-content/annoshow?call=dvb|19180301|9|100.0|0).
NN: Ein erfundener Raubüberfall. – In: Deutsches Volksblatt v. 19.04.1918, S. 6 (http://anno.onb.ac.at/cgi-content/annoshow?call=dvb|19180419|6|100.0|0).
M.S.: Vorgetäuschte Verbrechen. – In: Neues 8 Uhr-Blatt v. 19.04.1918, S. 2 (http://anno.onb.ac.at/cgi-content/annoshow?call=nab|19180419|2|100.0|0).
NN: Warnung! – In: Neues Wiener Journal v. 03.07.1918, S. 6 (http://anno.onb.ac.at/cgi-content/annoshow?call=nwj|19180703|6|100.0|0).
NN: Aus dem Polizeiberichte. – In: Reichspost v. 09.07.1918, S. 6 (http://anno.onb.ac.at/cgi-content/annoshow?call=rpt|19180709|6|100.0|0).
NN: Große Seidendiebstähle. – In: Arbeiter-Zeitung v. 11.07.1918, S. 5 (http://anno.onb.ac.at/cgi-content/annoshow?call=aze|19180711|5|100.0|0).
NN: Wieder eine Köpenickiade. – In: Deutsches Volksblatt v. 10.10.1918, S. 9 (http://anno.onb.ac.at/cgi-content/annoshow?call=dvb|19181010|9|100.0|0).
NN: Wiener Tagesereignisse. – In: Reichspost v. 18.11.1918, S. 4 (http://anno.onb.ac.at/cgi-content/annoshow?call=rpt|19181118|4|100.0|0).
NN: Große Diebstähle. – In: Arbeiter-Zeitung v. 08.12.1918, S. 6 (http://anno.onb.ac.at/cgi-content/annoshow?call=aze|19181208|6|100.0|0).
Ein Beitrag von Katharina Schätz