„Sündige Stadt“ – „sündiger Stadtteil“?

Der im Rahmen des  Workshops „Spatial History“ im Februar 2016 am Germanistischen Institut der Eötvös-Loránd-Universität gehaltene Vortrag von Boldizsár Vörös analysiert die Funktionen der Gegenüberstellung von Buda und Pest in literarischen und Presse-Texten der Jahre 1919–1921 aus Ungarn.

Boldizsar Vörös: Suendige-Stadt-suendiger-Stadtteil_PDF-Version

 

„Sündige Stadt“ – „sündiger Stadtteil“?

Die Gegenüberstellungen von Buda und Pest in Texten aus Ungarn in den Jahren 1919–1921

Die drei Siedlungen am Donauufer, Buda, Óbuda und Pest, wurden 1873 vereinigt und Budapest verzeichnete als Hauptstadt Ungarns um 1900 eine rasante Entwicklung.[1] Zu dieser Zeit erschienen jedoch auch Werke, die Buda und Pest auf eigenartige Weise einander gegenüberstellten und Buda als Vertreter des „Alten“, „Vergangenen“, der „Bewegungslosig­keit“, Pest als den des „Neuen“, „Künftigen“, „Vorwärtsstrebenden“ charakterisierten. Laut einer Arbeit des Journalis­ten Ödön Gerő[2] von 1904 wichen Pest, Buda und Óbuda, aus denen

die Großstadt entstanden ist, voneinander gänzlich ab, aber auch die einzelnen Teile dieser Städte waren ebenso voll von Gegensätzen. Pest war die Stadt des Vorwärtsstrebens, Buda die der Erholung, Ó-Buda die des Fatalismus. In Pest der Fortschritt, in Buda die Ruhe, in Ó-Buda die Ent­sagung. Der Geist der drei Städte schmolz auch nicht zusammen, einige Teile bilden sogar eine je eigene Welt.[3]

Die Gegenüberstellung lässt sich auch in einem wichtigen Lexikon aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, im vierten Band des Révai-Lexikons von 1912 beobachten, und zwar im Artikel über Budapest:

B.[udapest] wurde bereits von der Natur in zwei unterschiedliche Hälften geteilt; der ungehinderten Expansion der auf dem rechten Ufer der Donau liegenden Buda und Óbuda (1. bis 3. Bezirk) setzen die Unebenheiten des Bodens und die schwer zugänglichen Berge eine Grenze; ihnen gehörte die Vergangenheit, die in ihnen ein Bollwerk unseres Vaterlands erblickte; das auf dem Stand des links liegenden Rákosmező erbaute Pest (4. bis 10. Bezirk) kann sich hingegen in jede Richtung ungehindert ausbreiten und der neue Zeitgeist, sich von den Erinnerungen und Traditionen lossagend und die Wichtigkeit dieser Niederung erkennend, ließ fast jeden Faktor des öffentlichen Lebens dorthin ziehen. Wenngleich Buda seine politische Bedeutung zum Teil beibehielt und bis heute die Residenz der königlichen Familie und mehrerer Ministerien ist, wurde seine nationalökonomische Funktion von Pest übernommen, das besonders seit der Wiederherstellung der Verfassung (1867) im Bereich der geistigen und materiellen Bildung riesige Fortschritte erreichte.[4]

Gegen die sich modernisierende multikulturelle Großstadt wurde jedoch von etlichen zeitgenössischen Autoren die Anklage erhoben, in ihrer Geistigkeit, ihrer Kultur dem Ganzen der „Nation“ fremd und moralisch „sündig“ zu sein.[5] Im Roman Andor (1918), der vor dem Ersten Weltkrieg spielt, schreibt der zu jener Zeit bereits weltberühmte Schriftsteller Ferenc Molnár[6] über das „sündige Budapest“ in einer Weise, die die beiden Teile der Stadt nicht im selben Ausmaß beurteilt, als er das Abendlicht über Pest wie folgt kommentiert: „Man konnte nicht wissen, ob es das sanfte Licht des aufgehenden Mondes war oder die Ausstrahlung des sündigeren Teils der Stadt gen Himmel, die man gelegentlich aus dem Zug sah, eine Stunde von Pest entfernt …“[7]

Am Ende des Ersten Weltkriegs, im Herbst 1918 kam es zu einer bürgerlich-demokratischen Revolution in Ungarn, die die Unabhängigkeit von Österreich und die Ausrufung der Republik zur Folge hatte.[8] Wie es dem Artikel des Révai-Lexikons zu entnehmen ist, befand sich der bedeutendere Teil der wichtigen Institutionen der Politik und des öffentlichen Lebens in Pest, so fanden auch die revolutionären Ereignisse großteils in diesem Teil der Stadt statt.[9] In der Ausgabe vom 10. November erschien in Budai Napló [Budaer Tagebuch], einem stadtpolitischen, wirtschaftlichen und sozialen Blatt für die Interessenvertretung der Budaer Seite, ein anonymer Leitartikel mit dem Titel Öreg Buda [Altes Ofen], der das politische Leben der beiden Stadtteile, ihre Rolle in der revolutionären Umwälzung als grundverschieden darstellte:

Ernsthaft, wie ein halbergrauter Bruder dem Kampf, der Kraftanstrengung seines jüngeren Bruders zuschaut, und bereit, mit starker Faust zu beschützen, was sein junger heißblütiger Bruder erkämpfte, so betrachten wir mit sympathischen Gefühlen die großen Kämpfe des jungen Pest. In unserem Blick findet sich Aufmunterung und ebenso Mäßigung, wie es sich bei uns – Alten – gehört.
Die Wellen der Revolution schlugen auch zu uns über,

behauptete der Verfasser des Artikels, um nachher auszuführen, dass auch die Einwohner von Buda den Erfolg der Freiheitsbestrebungen, die Gründung der neuen Regierung mit Freude begrüßten. „Und dann hätten wir gern still die brüderliche Hand auf die Schulter unseres fiebernden, taten­durstigen Bruders gelegt, damit er sich in seiner jugendlichen Schwärmerei nicht weiter hinreißen lässt.“[10] Der Einschätzung des Verfassers bzw. der Herausgeber des Blattes zufolge erfüllten sich bereits am Anfang der Revolution die erwünschten Ziele, nun sei es an dem Bürgertum von Buda die ihm typische Ordnung zu schaffen und die Disziplin zu bewahren. Der Verfasser des Artikels lässt in seinen Text nicht nur solche Elemente und Wertungen einfließen, die mit Blick auf die beiden Stadtteile bereits in den zitierten Arbeiten aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zu beobachten sind, sondern verwendet auch das alte Verfahren der Personifizierung von Buda und Pest.[11] Sie erscheinen aber diesmal im Gegensatz zu etlichen früheren Darstellungen nicht in Form einer Frau, sondern als ältere und jüngere Männer: Der Autor meinte offensichtlich, dass die Politik, die Teilnahme an der Revolution überwiegend Männer- und nicht Frauensache ist. Der Auftritt der beiden Figuren von unterschiedlichem Alter, Temperament, Beruf war geeignet, die Abweichungen hinsichtlich der Teilnahme an der großen Umwälzung zu betonen. Dies wurde durch die Formulierung, dass die Wellen von Pest nach Buda „überschlugen“ zusätzlich gestärkt. Die Charakterisierung des jüngeren Bruders als „fiebernd“, das heißt als „nicht gesund“, „krank“ dürfte dem Lesepublikum vermittelt haben, welche Vorbehalte seitens des Verfassers und der Herausgeber gegen die weiteren radikalen Veränderungen bestanden. Die Darstellung Budas als alter Mann dürfte im Einklang mit dem Titel des Artikels die Einstellung dieses Stadtteils zur Revolution für das Lesepublikum verständlich gemacht haben.

Die führenden Figuren der ungarischen Republik fanden keine Lösung für die schweren innen- und außenpolitischen Probleme des Landes, das neue System konnte nicht stabilisiert werden. Deshalb wurde im März 1919 die Proletarierdiktatur unter sozialdemokratischer und kommunistischer Leitung eingeführt und die Entscheidungsträger der Ungarländischen Räterepublik wollten mit einer Reihe von radikalen Maßnahmen einen die vorangehenden sozialen, wirtschaftlichen und politischen Systeme überbietenden Sozialismus bzw. Kommunismus etablieren. Der Großteil der wichtigen Institutionen war in Pest zu finden, das zugleich als Schauplatz eines bedeutenden Teils der Ereignisse galt.[12] Die Leiter der Räterepublik konnten aber ihr System auch nicht lange am Leben erhalten: Es brach im Sommer 1919 zusammen und in den folgenden Monaten übernahmen die rechten, konterrevolutionären Kräfte allmählich die Macht.

Die Verfahren, die für die Darstellung von Buda und Pest bereits früher charakteristisch waren, wie die Betonung der Unterschiede, die Personifizierung, verwendete auch der rechtsorientierte Journalist István Lendvai[13] in seinem humo­ris­tischen Artikel in der Uj Nemzedék [Neue Generation] vom 17. Oktober 1919 – allerdings mit einer Umpolung der Gegenüberstellung zugunsten des für ihn besseren Buda:

Die Donau bildet schon seit langem die Demarkationslinie zwischen Pest und Buda – nicht geografisch, sondern – sage ich – psychisch. Diese beiden Aspekte hängen sonst zusammen, dies wird von den deutschen Wissenschaftlern als ,Geopsychik‘ bezeichnet. Ich könnte über den konterrevolutionären Korso und über die alte-alte, hundertmal bewiesene Stänkerei von Buda gegen Pest lange sprechen. Ich könnte ausführen, dass in Budapest alle ordentlichen Leute Budaer sind, sie leben bloß nicht in Buda. […] Buda, die brave, häusliche, gut kochende, sentimentale, aber, wenn es sein muss, sturmreife Ehefrau führt seit langem ihren stillen Kampf gegen die seelenlose, hohle, aber prächtigere, attraktivere und berauschendere Konkurrentin, gegen die Kokotte Pest. Im Kampf wird diese Frau germanischer Herkunft gewinnen, diese Walküre mit Haube und Schürze.[14]

In der Ausgabe vom 25. Oktober besprach im Budai Napló der kurze Artikel Buda pártján … [Für Buda Partei ergriffen …] mit voller Zustimmung Lendvais Text und stellte fest: „Buda konnte doch etwas von den Revolutionen in Pest profitieren: – man hat uns bemerkt. Man hat uns drüben in Pest so gesehen, wie wir wirklich sind.“[15] Die Abgrenzung von der bürgerlich-demokratischen Revolution im Herbst 1918 und dem sozialdemokratisch-kommunistischen Revolutionsversuch 1919 wurde aber mit ihrer Charakterisierung als „Pester“ deutlich zum Ausdruck gebracht.

Für die Budaer durfte diese Abgrenzung von Pest an der Wende 1919/1920 nicht zuletzt aus dem Grund wichtig sein, weil Budapest zu jener Zeit von mehreren meinungsbildenden Instanzen wieder als „sündig“ qualifiziert wurde, nun als die Hauptstadt der Revolutionen.[16] Miklós Horthy, Oberbefehlshaber der Nationalarmee, sagte bei seinem Einzug nach Budapest am 16. November 1919 in einer Rede: Budapest ist „in den letzten Jahren der ungarischen Nation zum Verderben geworden. Dafür rufe ich die ungarische Hauptstadt, hier am Donauufer, zum Bahrgericht. Diese Stadt hat ihre tausend­jährige Vergangenheit verleugnet.“ Budapest sei eine Sünderin, der man nur verzeihen könne. Horthy hielt fest: „Doch wir sind bereit, zu verzeihen. Wir verzeihen, wenn diese auf Abwege geratene Stadt zu ihrem Vaterlande wieder zurückkehren wird.“[17] Das Ziel ist also die Errichtung einer sich erneuernden, „national“ gesinnten Hauptstadt.

Die alle Einwohner der Hauptstadt betreffende Stigmatisierung „das sündige Budapest“ von den „Budaern“ abzuwenden, war das Ziel des Artikels A budai erkölcs [Die Moral von Buda] im Budai Napló vom 11. Januar 1920, dessen Verfasser den Stadtteil nicht nur von den „Pestern“ abgrenzen wollte, sondern eindeutig auf die Unterschiede hinwies:

Uns Budaer macht es große Sorgen, dass Pest unser Bruder ist. Wir müssen wie Abel dulden und leiden wegen der Grausamkeiten von Kain. Wir sind wie ein tugendhaftes Mädchen reiner Moral und edlen Herzens in einer liederlichen, unzüchtigen Familie, das aber ebenfalls verabscheut wird, weil es den Namen der Familie trägt. Haben nicht alle Budaer – uns oft schämend – das Gefühl gehabt, als von den verkommenen Sitten der Einwohner Budapests, von ihrem seinem gegen Gott und das Vaterland gerichteten Verhalten die Rede war, dass wir auch Budapester sind? Oder als die vornehmen Damen der Provinz den Budapestern ihre verwerflichen Taten zum Vorwurf machten und drohten, sie für ihre Gräueltaten aushungern zu lassen: Waren unsere Hände nicht zur Faust geballt im Bewusstsein dessen, dass nun auch uns Budaer der an die Pester adressierte, wohl verdiente Vorwurf betrifft, obwohl wir es keinesfalls verdient haben? Wir können für jene Schulden nicht zur Rechenschaft gezogen werden, unsere Weltauffassung, unsere Moral, unser Leben sind ganz anders als das unseres strauchelnden Bruders.

Der Verfasser fragt, ob es uns auf Reisen in der Provinz „nicht weh tat, uns allen, den Einwohnern von Buda, als man mit und über uns per Pester sprach, als uns vieles über das ‚sündige Babylon‘ ins Gesicht gesagt wurde, womit wir Budaer absolut nichts zu tun haben. Wir sind nicht Pest.“ Er behauptete weiter, die „Budaer“ hätten sich am Weltkrieg ehrlich beteiligt und auch zur Zeit der Räterepublik ihre Religiosität und ihren Patriotismus bewahrt. Danach schloss er den Artikel wie folgt: „Wahrlich sage ich, die ‚Provinz‘ könnte von uns Glaubenseifer, Religiosität und Vaterlandsliebe lernen. Wir haben Gott sei Dank mit der Pester Moral nichts gemein. Uns verpflichtet die Budaer Moral, mit ihr leben und sterben wir.“[18]

Der Verfasser machte es mit der Verwendung unterschiedlicher Techniken unmissverständlich, dass die Verurteilung der „Budaer“ nicht angebracht sei: mit der Darstellung der beiden Teile der Stadt durch ganz unterschiedliche Charaktere; mit der nachdrücklichen Betonung, dass der „wohl verdiente Vorwurf“ „nur die Pester“ betreffen könne, die „Budaer“ hätten es „keinesfalls“ verdient, mit vielen Anschuldigungen hätten sie „absolut nichts zu tun“, sie seien „nicht Pest“. Und sogar die „Provinz“ könne von ihnen Religiosität und Vaterlandsliebe lernen. Die Personifizierungen der Stadtteile weichen dabei eindeutig von der Gebrüder-Darstellung im Budai Napló von 1918 ab und sind mit der Gegenüberstellung „brave Ehefrau“ vs. „Kokotte“ in Lendvais Artikel von 1919 verwandt. Die Bedeutung des Problems wird mit verschiedenen Hinweisen auf die Bibel veranschaulicht: mit dem Gegensatz von Abel und Kain; mit der Erwähnung von Budapest als „sündiges Babylon“; mit den „verwerflichen Taten“ und mit der Wendung „wahrlich sage ich“ sowie mit den für die ungarischen Bibeltexte charakteristischen Partizipformen.[19] All das dürfte geeignet gewesen sein, die Ausführungen über die Religiosität der „Budaer“ zu unterstützen. Der Abschluss „mit ihr leben und sterben wir“ konnte einen Teil aus dem „Szózat“ [Mahnruf] Mihály Vörösmartys[20] in Erinnerung rufen, der als zweite Nationalhymne gilt,[21] und zugleich auf den Patriotismus der „Budaer“ hinweisen.

Die Betonung von Budas „Unschuld“ im Gegensatz zur „Sündhaftigkeit“ Pests konnte zu dieser Zeit auch dazu dienen, bei der Festlegung der historisch-politischen Aufgabe des Stadtteils am rechten Ufer im Wahlprogramm als eine Art Basis zu funktionieren – und dem dafür einstehenden Politiker Stimmen einzubringen. Vor der Nationalratswahl 1920 stellte der unabhängige Ingenieur und Wirtschaftsexperte Kálmán Méhelÿ[22] in seinem Programm Buda und Pest gleich in mehrerer Hinsicht einander gegenüber und behauptete:

[…] wenn wir von der ‚sündigen Hauptstadt‘ sprachen, ertragen wir wohl das Odium dieses strengen Urteils mit der Geduld, wie sie sich aus dem brüderlichen Verhältnis ergibt, wir sollen dennoch darauf hinweisen, dass höchstens vom ‚sündigen‘ Pest die Rede sein kann, das ‚sündige Buda‘ existiert aber nicht, nur das leidende und verlassene, stiefmütterlich behandelte und verabscheute Buda, das schläfrige und schlafende Buda. Das schlafende Buda soll aufwachen und fortan der sorgfältige und tugendhafte Hüter des Gleichgewichts der Hauptstadt und des Landes, ihr gutes Gewissen sein![23]

Der Kandidat, der sein „Budaertum“ den Wählern mit dem Verb „ertragen“ in erster Person Plural vermittelt, meint, aus diesem Grund sollten „die Einwohner von Buda zu urbanem Leben, zur Selbstverwaltung […] und zur einfallsreichen, tugendhaften Erfüllung der bürgerlichen Pflichten“ erzogen werden. Aus dem Text stellt sich also heraus, dass sich diese positiven Züge bei den Budaern bis jetzt vermissen ließen: Auch wenn sie nicht sündig sind, sollen sie sich verändern. Diese Bewertung Budas zeigt also einige Affinitäten zu den zitierten Beschreibungen aus der Vorkriegszeit.

Kurz nach der Veröffentlichung des Programms von Méhelÿ erschien am 21. Februar 1920 in der Tageszeitung Pesti Napló [Pester Tagebuch] der Artikel Buda felébredt [Buda aufgewacht] mit der Diagnose, das politische Leben auf der rechten Seite der Donau sei lebhaft geworden. Der Autor charakterisierte Buda als „die ernsthaftere und stillere Hälfte der Hauptstadt“ und behauptete zugleich, dass bis jetzt „die Budaer Seite recht passiv war. In schlechten Taten ebenso wie in guten. Man könnte sagen, sie erwartete das Fertige von Pest, und sobald sie es erhielt, war sie mit ihm nicht immer zufrieden.“ Buda war „bescheiden, aber genau so bequem. Sie packte die Sachen am leichteren Ende an, und nachdem sie von Pest alles annahm, schob sie ihm zugleich jede initiierende Arbeit und jede Verantwortung zu.“[24] Wie die Autoren der anderen zitierten Texte personifizierte der Verfasser des Artikels aus dem Pesti Napló Buda und stellte es als handelnde Figur dar; mehrere Elemente der Charakterisierung wie Ernsthaftigkeit, Passivität, Intervention und Verantwortung lassen sich auch in den Artikeln von 1918 bis 1920 im Budai Napló beobachten. Es ist bemerkenswert, dass in der Ausgabe vom 28. Februar des Budai Napló der Artikel Buda felébredt [Buda aufgewacht] den Text aus dem Pesti Napló und noch ähnliche bespricht und dabei Einzelheiten aus der nicht nur dem Titel nach, sondern auch vom Standort her Pester Zeitung zitiert: etwa Formulierungen über die bisherige Passivität Budas, über die restlose Aufnahme der Pester Errungenschaften sowie über die Delegierung der Interventionen und Verantwortungen, ohne sie bestreiten zu wollen.[25] Der Verfasser und die Herausgeber des Budaer Blattes erkennen somit, wenn auch nur stillschweigend, die Berechtigung dieser Feststellungen an.

Die Gegenüberstellung des „revolutionären“ Pest und des „ruhigen“ Buda fand auch Eingang in das Bujdosó könyv [Buch der Flüchtigen] der konservativ-nationalen Schriftstellerin Cécile Tormay,[26] das die revolutionären Ereignisse von 1918/1919 in einer tagebuchartigen Form[27] aufarbeitet. Im Abschnitt über die Hauptstadt am 31. Oktober 1918 schrieb sie, dass sie nach dem Wechsel aus den Turbulenzen in Pest auf die Budaer Seite, nach der Kettenbrücke

jenseits des Tunnels das Gefühl hatte, als wäre ich aus dem Berg auf der anderen Seite der Welt rausgekommen. Dort war die Stadt still, so still, das ich auf der Budaer Straße das Echo meiner Schritte vernahm. Bei der Blutwiese, am Fuße des Burgbergs hockten friedlich die ebenerdigen Häuschen. Sie werden erst morgen, beim Frühstückskaffee in der Zeitung lesen, was geschah.

In einem Haus „fing ein junges Mädchen an, mit einer kleinen roten Kanne die Blumen zu gießen. Sie muss sie gestern just in dieser Stunde gegossen haben und das Leben geht für sie auch morgen so weiter. Am anderen Ufer der Donau brüllt man aber: Es lebe die Revolution!“ Über ihren weiteren Weg, bei immer dichterem Nebel berichtet Tormay wie folgt: „In Pest war der Nebel noch ein dichter Dreck, hier draußen ist aus ihm Schönheit geworden. Derzeit wird in Pest aus allem Dreck, was draußen im Land Schönheit ist.“[28] Die Unterschiede zwischen den beiden Stadtteilen sollen also im Text mit der Wendung „auf der anderen Seite der Welt“ veranschaulicht werden, und die folgenden konkreten Einzelheiten sind geeignet, dies zu beweisen. Danach erscheinen die anderen Teile des Landes in den quasi zusammenfassenden Sätzen über den Nebel dem revolutionären Pest gegenübergestellt, denen Tormay zufolge Buda ebenfalls zugehört.

Eine ähnliche Beschreibung ist im Romanfragment Meg­ered az eső [Es fängt an zu regnen] des rechtsradikalen Schriftstellers Dezső Szabó[29] zu finden. 1920/21 entstanden,[30] aber erst 1931 publiziert, behandelt das Werk die Ereignisse der Revolution von 1918. Vom brodelnden Pest

auf Buda hinüberschreitend, erfrischte sie [die Figuren] die tiefe, zarte Budaer Stille wie der frische Atem, wie das Streicheln einer kühlen Hand auf der heißen Stirn. Der Herbst steckte in der Stille wie die Märchentante in der Waldhütte und erzählte von einer großen Güte. In einem Fenster des Kaffeehauses Elisabethbrücke schnitt ein Kellner mit einem Klappmesser die Nägel und gähnte dazu gemütlich. Und an einem Tisch schaute sich ein alter-alter Onkel, ein immer zivil gekleideter Generalleutnant a.D. in fleckiger Pepitahose die Bilder der Sonntagszeitung von vor einem halben Jahr an. […] Als wäre da drüben [in Pest] das Rasen des aufgewühlten Lebens nur das Abklingen des kranken Fiebers: und hier wären die kleinen Häuser, die einfachen Menschen, die alltäglichen Sorgen und hauchdünnen Freuden die unvergängliche Geschichte.[31]

Im Programm des Kandidaten für den Nationalrat, in den Texten von Tormay und Szabó kann man aber nicht nur das Verpönen von Pest beobachten, sondern auch die Charakterisierung von Buda als „schlafend“, „schläfrig“, „unbeweglich“ – sicherlich nicht unabhängig von den Bewertungen dieses Stadtteils aus der Vorkriegszeit, die auch in den zitierten Arbeiten sind. Mit dieser Auffassung latent polemisierend betonte der Verfasser des Leitartikels im Budai Napló am 14. Mai 1921 die neuere politische-gemeinschaftliche Aktivität der „Budaer“:

Vom begeisterten Anfang der Konterrevolution gingen alle nationsrettenden Bewegungen in einer gesunden Form von Buda aus, wurden aber die Donau überquerend von Hass, ungebändigten Extremen, dem unbedingten Willen infiziert, und wir erhielten sie in Buda bereits krank zurück, in anderer Form, mit anderer Tendenz, wie anfangs.[32]

Der Verfasser stellt in diesem Fall die Größe der „Sündhaftigkeit“, der „Schädlichkeit“ von Pest dadurch dar, dass es auch die von Buda ausgehenden positiven Initiativen zerstörte (dies sollte mit den Ausdrücken zu Krankheit und Gesundheit verdeutlicht werden), die letztlich bei den „Budaern“ in diesem Zustand zurückgekehrt sind. Wenn sie hier also eine negative Wirkung entfalteten, tragen daran die Initiatoren keine Schuld. In derselben Nummer erschien auf der nächsten Seite das Gedicht Buda … von Jenő Szentirmay,[33] in dem der Dichter das altmodische „stille, uralte Buda“, wo noch „Romantik, heilige Liebesschwärmerei / Süßes Rendezvous im Geheimen“ existiert, Pest gegenüberstellt, wo „uns das kalte Leben erwartet, / Straßenlärm … herzzerreißende Traurigkeit“. Der Dichter meint zugleich, Buda sei eine „bleierne Welt … in den Augen der Pester …“[34] Im Gegensatz zum Verfasser des zitierten Leitartikels stellte Szentirmay die linke Seite der Donau nicht als „sündig“ dar, sondern listete nur die negativen Aspekte des dortigen Lebens auf, wobei er mit Blick auf Buda auch als positiv zu bewertende Phänomene anführte. Die einzelnen Elemente des Gedichts ergänzten auf eine besondere Weise die Darstellung des Gegensatzes von Buda und Pest im Leitartikel: Demnach gingen die Bewegungen für die „Rettung der Nation“ vom altmodischen, stillen, traditionelle Werte bewahrenden Teil Budapests aus, die in Pest zunichte gemacht wurden, wo nicht nur die unterschiedlichen Erscheinungen des politischen Lebens eine schädliche Wirkung entfalten, sondern auch der Alltag kalt, laut und traurig sei.

 

Die analysierten Texte verdeutlichen sehr wohl, wie bestimmte topografische Stereotypien und Darstellungsweisen (wie die Personifizierung) im Zuge der radikalen historischen Umwälzungen in verschiedenen Textsorten weiterleben bzw. sich verändern können: in Zeitungsartikeln, im Wahlprogramm, in tagebuchartigen Aufzeichnungen, in einem Roman, in einem Gedicht. Aus den untersuchten Beschreibungen stellt sich heraus, dass es in dieser Zeit bei der Bewertung von Buda zu keiner großen Veränderung kam (obwohl die Belebung des öffentlichen Lebens in Buda in den Jahren 1920/21 gewürdigt wurde), in der Einschätzung von Pest jedoch eindeutig: Betrachteten die Verfasser der Texte aus der Periode vor 1918 die hier vor sich gehenden Veränderungen nicht als negativ, waren der Leitartikelschreiber und die Herausgeber der Ausgabe des Budai Napló vom 10. November 1918 bereits reservierter angesichts der revolutionären Umwälzung und ihrer möglichen Folgen. Die späteren Veränderungen wurden von mehreren Autoren verurteilt, die Tendenz der Transitionen hatte also Einfluss auf die Einschätzung ihrer wichtigen Schauplätze. Dabei lässt sich das Phänomen beobachten, dass die meinungsbildenden Instanzen Budas für die Formulierung bzw. Artikulierung der eigenen Identität ihre Andersheit betonten und sich im Gegensatz zu Pest positionierten.

Diese Untersuchungen zeigen zugleich auf einer generellen Ebene an, dass äußerst divergente Einschätzungen unterschiedlicher Teile einer Siedlung gleichzeitig erscheinen können, sogar derart, dass ein Teil eines bestimmten Orts den anderen beurteilt. Wie diese Ansichten in den nächsten Jahrzehnten weiterlebten und sich veränderten,[35] wäre das Thema einer anderen Arbeit.

 

[1] Über Budapests Geschichte im Allgemeinen, s. bspw. András Gerő u.a. (Hg.): Budapest: A History from Its Beginnings to 1998. Übers. Von Judit Zinner u.a. Boulder: Social Science Monographs 1997.

[2] Über Ödön Gerő s. bspw. NN: Gerő, Edmund. In: Oskar von Krücken u.a. (Hg.): Das Geistige Ungarn. Biographisches Lexikon. Bd. 1. Wien, Leipzig: Braumüller [1918], S. 391.

[3] Ödön Gerő: Budapest. Budapest: Hornyánszky 1904, 5. S. noch: Boldizsár Vörös: Pest wurde zur „glücklichsten, zivilisiertesten, schönsten“ Metropole der Welt: Die Stadt im Jahre 1950 – einem 1915 entstandenen utopistischen Roman zufolge. In: Miklós Fenyves u.a. (Hg.): Habsburg bewegt. Topografien der Österreichisch-Ungarischen Monarchie. Frankfurt a.M.: P. Lang 2013, S. 247-248.

[4] NN: Budapest. In: Révai Nagy Lexikona. Az ismeretek enciklopédiája. Bd. 4. Budapest: Révai 1912, S. 31; Vörös 2013, S. 247-248.

[5] S. dazu bspw. Gábor Schweitzer: Budapest, az ország vakbele. A magyar politikai közbeszéd történetéhez [Budapest, der Blinddarm des Landes. Zur Geschichte der öffentlichen politischen Rede in Ungarn]. In: Budapesti Könyvszemle 4/2005, S. 328-329.

[6] Über Ferenc Molnár bzw. seinen Roman Andor s. bspw. Clara Györgyey: Ferenc Molnár. Boston: Twayne 1980, S. 74-77, S. 179.

[7] Ferenc Molnár: Andor. Budapest: Athenaeum 1918, S. 554. S. noch: Gábor Gyáni: Identity and the Urban Experience: Fin-de-Siècle Budapest. Übers. v. Thomas J. DeKornfeld. Boulder: Social Science Monographs 2004, S. 207-222, S. 251-254.

[8] Über die Geschichte Ungarns in den Jahren 1918–1921 s. bspw. Ignác Romsics: Weltkrieg, Revolutionen, Trianon (1914–1920). In: István György Tóth (Hg.): Geschichte Ungarns. Übers. v. Éva Zádor. Budapest: Corvina 2005, S. 599-627; Ders.: Konsolidation, Krise und Weltkrieg (1920–1944/5). In: Geschichte Ungarns 2005, S. 629-673.

[9] S. dazu Miklós Horváth: A forradalmi és ellenforradalmi események helyrajza [Topografie der revolutionären und konterrevolutionären Ereignisse]. In: Ders. (Hg.): Budapest története a forradalmak korától a felszabadulásig. Budapest: Akadémiai 1980, S. 109-118.

[10] Budai Napló v. 10.11.1918, S. 1.

[11] S. dazu bspw. Vörös 2013, S. 245-249.

[12] S. dazu Horváth 1980, S. 109-118.

[13] Über István Lendvai s. bspw. NN: Lendvai István. In: László Markó (Hg.): Új magyar életrajzi lexikon. Bd. 4. Budapest: Magyar Könyvklub 2002, S. 179.

[14] Uj Nemzedék v. 17.10.1919, S. 3.

[15] Budai Napló v. 25.10.1919, S. 2.

[16] S. dazu bspw. Schweitzer 2005, S. 328-335; Alexander Vari: Re-territorializing the ,Guilty City‘: Nationalist and Right-Wing Attempts to Nationalize Budapest during the Interwar Period. In: Journal of Contemporary History 4/2012, S. 709-733.

[17] S. dazu bspw. Boldizsár Vörös: Verschiedene politische Mächte – in derselben Hauptstadt. Symbolische Raumbesetzungen in Budapest 1918–1919. In: Károly Csúri u.a. (Hg.): Massenfeste. Ritualisierte Öffentlichkeiten in der mittelosteuropäischen Moderne. Frankfurt a.M.: P. Lang 2009, S. 27-33.

[18] Budai Napló v. 11.1.1920, S. 1-2.

[19] S. die Bibel-Übersetzung von Gáspár Károli.

[20] Über Mihály Vörösmarty s. bspw. K. Vörös: Vörösmarty. In: Matthias Bernath u.a. (Hg.): Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. Bd. 4. München: Oldenbourg 1981, S. 438-440.

[21] S. Mihály Vörösmarty: Mahnruf. In: Ders. u.a.: Szózat. A gondolattól a világhírig. Budapest: Hazafias Népfront 1981, o. S.

[22] Über Kálmán Méhelÿ s. bspw. NN: Méhelÿ Kálmán. In: Új magyar életrajzi lexikon 2002, S. 637-638.

[23] Beilage des Budai Napló v. 11.1.1920, S. 1-2.

[24] Pesti Napló v. 21.2.1920, S. 3.

[25] Budai Napló v. 28.2.1920, S. 2.

[26] Über Cécile Tormay s. bspw. Eugène Katona: Cécile Tormay. In: Nouvelle Revue de Hongrie 5/1937, S. 440-442.

[27] S. dazu Krisztina Kollarits: Egy bujdosó írónő – Tormay Cécile [Eine flüchtige Schriftstellerin] Vasszilvágy: M. Nyugat 2010, S. 7, S. 97-105.

[28] Cécile Tormay: Bujdosó könyv. Feljegyzések 1918–1919-ből [Das Buch der Flüchtigen. Aufzeichnungen aus den Jahren 1918–1919]. Budapest: Rózsavölgyi és Társa – Pallas 1920, S. 23-24. S. Dies.: An Outlaw’s Diary: Revolution. O.Ü. New York: Robert M. McBride & Company 1923, S. 13-14.

[29] Über Dezső Szabó s. bspw. Albert Tezla: Hungarian Authors. A Bibliographical Handbook. Cambridge, Mass.: Belknap Press of Harvard UP 1970, S. 519-526.

[30] S. dazu Péter Nagy: Szabó Dezső. Budapest: Akadémiai 1964, S. 275-276, S. 311-312.

[31] Dezső Szabó: Megered az eső [Es fängt an zu regnen]. Budapest: Bartha Miklós Társaság 1931, S. 39.

[32] Budai Napló v. 14.5.1921, S. 1.

[33] Über Jenő Szentirmay s. noch den Zettel von Jenő Szentirmay in http://gulyaspal.mtak.hu/ (zuletzt eingesehen am 25.2.2016).

[34] Budai Napló v. 14.5.1921, S. 2.

[35] S. dazu bspw. Pesti Napló v. 14.6.1929, S. 4; József Füsi: Lágymányos. In: Budapest 4/1946, S. 148. Für die Hilfe bei der Fertigstellung der vorliegenden Arbeit bedanke ich mich bei Amália Kerekes und Gábor Gyáni.