József Lengyel: Die Straße der Flucht

Geschichten, die eine Flucht in die Details gehend beschreiben, findet man selten. Die Erinnerungen und die Polizeiakten dokumentieren meistens nur die wichtigsten Stationen der Flucht, dies ist im Fall der kommunistischen Emigranten, die Ungarn Ende 1919 verließen, auch nicht anders. Die folgende Erzählung von József Lengyel gehört zu den wenigen Ausnahmen.

Lengyel wurde am 28. Oktober 1919 von der österreichischen Gendarmerie angehalten und stand als ehemaliger Mitarbeiter der kommunistischen Roten Zeitung wegen „Aufreizung“ auf ihrer Fahndungsliste, wie es dem Verhörprotokoll zu entnehmen ist (Österreichisches Staatsarchiv/AdR, NPA Liasse Ungarn 881, Fol. 128). Er und zwei weitere führende Mitglieder der kommunistischen Partei, der Chefredakteur derselben Zeitung und der Sekretär der Jugendorganisation László und Béla Rudas, waren mit gefälschten Legitimationspapieren unterwegs und wurden nach ihrem Verhör in Wien, wo ihrem Antrag auf politisches Asyl stattgegeben wurde, in die Burg Karlstein überstellt, in der mehrere Volkskommissionäre interniert waren. Darüber, warum solche Geschichten nur selten in Form von Erzählungen aufgearbeitet wurden, kann man nur spekulieren. Lengyels Erzählung Die Straße der Flucht dürfte vielleicht einige Anhaltspunkte für diese Spekulationen bieten. Sie ist nämlich äußerst reich an Einzelheiten, die die Dilemmata der Flüchtlinge beschreiben: die Verantwortung für ihre Familie, die sie hinterlassen und den Schikanen der Polizei aussetzen müssen, die gelegentlich fehlende Solidarität, gar Aggression unter den miteinander konkurrierenden Flüchtlingen, das Misstrauen, die wechselseitigen Verdächtigungen und die Hassliebe, die sie für ihre Heimat empfinden. In der Erzählung ist es ebenso bemerkenswert, wie sich die Flüchtlinge kurz vor ihrem Aufbruch in dem fremd gewordenen, weil wieder im normalen Rhythmus funktionierenden Budapest bewegen und letztlich von der Stadt Abschied nehmen.
Die Erzählung, die den wirklichen Fluchtweg über Deutsch-Altenburg nur andeutet und die aufgrund der Akten identifizierbaren mitgeflohenen intellektuellen Genossen in einer symbolischen Figur zusammenfasst, verdanken wir der Vermittlung der Tochter von József Lengyel, Tatjána Lengyel, die uns die Kopie aus dem in Marcali aufbewahrten Nachlass freundlicherweise zur Verfügung stellte (MHTM gysz 3596). Bei der Kopie handelt es sich um die Ausschnitte aus der kommunistischen Hamburger Volkszeitung, den Erscheinungstermin konnten wir noch nicht eruieren. Die zweite Hälfte der Erzählung wurde von Lengyel Jahrzehnte später überarbeitet (József Lengyel: Obsitosok szökésekről mesélnek [Entlassene Soldaten erzählen von Fluchten]. In: Ders.: Igéző. Budapest: Magvető 1971, Bd. 2, S. 242-294) als Teil einer längeren belletristischen Arbeit mit mehreren historischen Beispielen für die Bedeutung der „Geistesgegenwärtigkeit“, die bei der Überwindung der zahlreichen Hürden während der Flucht unentbehrlich war. Die Übersetzung von Stefan J. Klein, der als einer der wichtigsten Vermittler der modernen ungarischen Literatur (etwa von Babits und Kosztolányi) galt, mutet gelegentlich etwas holprig an, weil sie sich weniger als üblich vom ungarischen Original trennen will (offensichtliche Druckfehler haben wir stillschweigend korrigiert). Ebenfalls in Kleins Übersetzung erschien József Lengyels Erzählung über den weißen Terror in Ungarn, Mit Brot im Munde. Eine Erzählung aus dem ungarischen Sibirien, in der Wiener Roten Fahne (5.–14.5.1926, http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=drf&datum=19260505&seite=6&zoom=33).

József Lengyel: Die Straße der Flucht